Die neuesten Leitlinien zur Prävention von Herz-Kreislauferkrankungen (CVD) wurden zu einem benutzerfreundlichen Dokument umgestaltet, in dem mehr Gewicht als zuvor auf die Erkenntnisse aus klinischen Studien und Populations-Beobachtungsstudien gelegt wurde. Die „European Guidelines on Cardiovascular Disease Prevention in Clinical Practice (Version 2012)“¹ wurden bei der EuroPRevent 2012-Tagung in Dublin, Irland, vorgestellt.
„Die Umsetzung der Leitlinien zur Prävention hätte in der Vergangenheit zweifellos besser sein können. Deshalb haben wir einen radikalen Schnitt gemacht und ein neues Format für die Leitlinien entworfen, durch das diese erheblich übersichtlicher geworden sind“, erläuterte Professor Joep Perk, der Vorsitzende der Guidelines Task Force. „Die Änderungen sollen bewirken, dass die Informationen aus den Leitlinien dorthin gelangen, wo sie wirklich gebraucht werden – zu den Angehörigen der Gesundheitsberufe, die praktische Arbeit leisten, zu den Politikern und in die Öffentlichkeit.“
Die neuesten Leitlinien wurden von der Fifth Joint Task Force (JTF) der Gesellschaften für Cardiovascular Disease Prevention in Clinical Practice entwickelt, zu denen die European Society of Cardiology (ESC) und sieben weitere Gesellschaften zählen. Sie wurden gegenüber der vierten Ausgabe von 2007 um ein Drittel gekürzt. „Wir haben uns auf die grundlegenden Prinzipien des Lehrens rückbesonnen und uns um das Was, Warum, Wer, Wie und Wo der präventiven Kardiologie gekümmert“, so Perk von der Linnaeus University in Kalmar, Schweden.
In den Leitlinien wird ausdrücklich betont, dass die Prävention von Herz-Kreislauferkrankungen ein ‚lebenslanges Unterfangen’ sei, das im Mutterleib beginnt und mit dem Tod endet. Auf die verhaltensbezogenen Aspekte der Prävention wurde größeres Gewicht gelegt. Es werden Möglichkeiten diskutiert, wie man es den Patienten erleichtern könnte, ihren Lebensstil zu ändern.
Zum ersten Mal wurden die Leitlinien gleichzeitig bei der EuroPRevent 2012-Tagung vorgestellt, die vom 3. bis 5. Mai 2012 stattfindet, und im European Heart Journal und im European Journal of Preventive Cardiology veröffentlicht. „Dies ist mit Absicht geschehen. So konnten wir die Tagung um die Leitlinien herum strukturieren und viele Möglichkeiten für breit gefächerte Diskussionen anbieten, durch die die Teilnehmer in die Lage versetzt wurden, schnell auf einen einheitlichen Stand zu kommen“, erläuterte Professor Ian Graham, Vorsitzender des EACPR Prevention Implementation Committee und Co-Vorsitzender des EuroPRevent2012 Programme Committee.
Für praktische Ärzte und Krankenschwestern/-pfleger gibt es spezielle Leitlinien veranstaltungen. Zusätzlich werden Trainingsveranstaltungen für die Koordinatoren, die von verschiedenen europäischen Ländern speziell für die Umsetzung der Leitlinien delegiert wurden, angeboten, in denen vermittelt wird wie man bei Politikern, Gesundheitsexperten und der Öffentlichkeit am besten etwas bewirkt. Auch ein elektronisches, interaktives Lernprogramm (Guideline Learning Tool) wird bei EuroPrevent 2012 in Betrieb genommen. „Wir finden das wirklich spannend, weil es Ärzten, Studenten und anderen Angehörigen der Gesundheitsberufe ermöglichen wird, durch Fallstudien und weitere neue Lerntechniken, die Leitlinien interaktiv zu nutzen“, fügte Graham an.
Außerdem sind die Leitlinien im Taschenformat, eine DIN-A-Seite mit allen wichtigen Informationen und ein Dia-Satz für Lehrzwecke in Vorbereitung. „Letztendlich wollen wir eine Zusammenfassung im DIN-A-Format auf dem Schreibtisch eines jeden Hausarztes in Europa sehen. Das wird dann die Bibel der Gesundheitsvorsorge sein“, sagte Perk.
Die Prävention von Herz-Kreislauferkrankungen muss dringend verbessert werden
Wie dringend die Prävention von Herz-Kreislauferkrankungen der Förderung bedarf, wird auch aus der Statistik ersichtlich. Diese zeigt, dass Herz-Kreislauferkrankungen weltweit die Haupttodesursache sind. Jährlich sterben in Europa mehr als 4,3 Millionen Menschen an Herz-Kreislauferkrankungen (Quelle: European Heart Network), und alle Todesfälle vor dem 75-ten Lebensjahr werden bei ca. 42% aller Frauen und 38% aller Männer durch Herz-Kreislauferkrankungen verursacht¹.
Wobei die große Mehrzahl dieser Todesfälle durch so einfache Maßnahmen wie Raucherentwöhnung, bessere Ernährung und mehr Bewegung verhindert werden könnte. Klinischen Studien und Beobachtungsstudien an bestimmten Gruppen belegen, dass Herz-Kreislauferkrankungen durch veränderbare Risiken verursacht werden. Die INTERHEART-Studie² - eine Fall-Kontrollstudie, bei der der Lebensstil von ca. 15.000 Patienten, die einen akuten Herzinfarkt erlitten hatten, mit dem von 15.000 Kontrollprobanden verglichen wurde - zeigte beispielsweise, dass neun veränderbare Risikofaktoren verantwortlich waren für 90% der zuordenbaren Risiken bei Männern und 94% der zuordenbaren Risiken bei Frauen. Diese Risikofaktoren waren Dyslipidämie, Rauchen, Bluthochdruck, Diabetes, abdominale Fettleibigkeit, psychosoziale Faktoren, Verzehr von Obst, Gemüse und Alkohol und körperliche Betätigung.
„Die Ergebnisse der INTERHEART-Studie weisen darauf hin, dass 90% aller Herzanfälle weltweit verhindert werden könnten und dass die Mehrzahl der Herzanfälle direktes Resultat des individuellen Lebensstils sind“, so Professor Guy De Backer, ein Mitglied der Guidelines Task Force. „Es gibt aber auch eine gute Nachricht: es ist nie zu spät seinen Lebensstil zu ändern, selbst nach einem Vorfall.“
Beweise hierfür finden sich in einer in Circulation³ veröffentlichten Studie aus dem Jahr 2010, bei der Clara Chow und ihre Kollegen 19.000 Patienten, die sich nach einem Herzinfarkt einer perkutanen Koronarintervention unterzogen hatten, zu ihrem Lebensstil befragten. Die Studie, die in 41 Ländern durchgeführt wurde, zeigte, dass Patienten, die weiter rauchten und weder ihre Essgewohnheiten änderten noch sich mehr bewegten, innerhalb von sechs Monaten ein 3,8-fach höheres Risiko eines Myokardinfarkts oder Schlaganfalls bzw. ein 3-fach höheres Sterberisiko hatten als Nichtraucher, die ihre Essgewohnheiten geändert hatten und sich mehr bewegten. Beide Gruppen nahmen regelmäßig ihre Medikamente ein. „Die Herausforderung bei den Leitlinien liegt darin, diese Erkenntnisse in eine effiziente Vorsorge umzuwandeln und die Öffentlichkeit zu einem gesünderen Lebensstil zu bewegen“, meinte De Backer, von der Universität Gent, Belgien.
Größere Gewichtung von Populationsstudien
In einem drastischen Schritt hat die Task Force zum ersten Mal das Grading of Recommendations Assessment Development and Evaluation (GRADE)-System zur Bewertung medizinischer Beweise eingeführt, dass Populationsstudien ein zunehmend größeres Gewicht zumisst.
Diese neue Bewertung erfolgt zusätzlich zum herkömmlichen Ansatz, der von der ESC in all ihren Leitlinien angewandt wird, bei dem Empfehlungen nach Klassen eingestuft werden (I, IIa, IIb oder III), je nach Studientyp, aus dem die Ergebnisse stammen.
Das GRADE-System wurde vom British Medical Journal entwickelt und berücksichtigt, zusätzlich zur Qualität der medizinischen Beweise, weitere Dimensionen, beispielsweise den Grad der Unsicherheit über die Ausgewogenheit der Vor- und Nachteile einer medizinischen Maßnahme und ob diese Maßnahme eine sinnvolle Nutzung von Ressourcen darstellt. Dieses System erlaubt die klare Trennung zwischen der Beweisqualität und der Nachdrücklichkeit der Empfehlungen.
„Beim traditionellen Ansatz zur Bewertung der Beweisqualität überwiegen randomisierte Kontrollstudien. Das ist zwar gute Wissenschaft, bringt aber ein Problem mit sich. Medikamentenstudien werden immer besser abschneiden als Maßnahmen zur Änderung des Lebensstils, weil sich randomisierte Kontrollstudien über cholesterin- und blutdrucksenkende Mittel einfach durchführen lassen, dieselben Studien über Raucherentwöhnung oder andere Änderungen des Lebensstils jedoch nur schwer,“ sagte Graham, vom Trinity College, Dublin.
Das GRADE-System verwendet nur zwei Empfehlungskategorien – stark oder schwach. Es gibt also starke Empfehlungen etwas zu tun, starke Empfehlungen etwas nicht zu tun und schwache Empfehlungen. Bei einer starken Empfehlung würden sich die meisten informierten Patienten wohl für die empfohlene Maßnahme entscheiden; bei schwachen Empfehlungen würden sich einige für, die meisten aber gegen die Maßnahme entscheiden. „Es besteht die Hoffnung, dass das GRADE-System eine viel klarere Interpretation der Leitlinien durch Ärzte, Patienten und Entscheidungsträger aus der Politik erlaubt“, fügte Graham an.
Umfassendes Leitliniendokument deckt alle Bereiche der Prävention ab
Die 2012 CVD Prevention Guidelines decken ein umfangreiches Themenspektrum ab, beispielsweise eine Gesamteinschätzung der Herz-Kreislauf-Risiken, Krankheiten mit erhöhtem Risiko für eine Herz-Kreislauferkrankung, Präventionsmethoden für Herz-Kreislauferkrankungen, Maßnahmen zur Raucherentwöhnung, Ernährungsgewohnheiten, körperliche Betätigung, psychosoziale Faktoren, Körpergewicht, Blutdruck, Diabetes Typ 2, Blutfette und antithrombotische Therapien.
Besonderes Augenmerk gilt den Gesetzmäßigkeiten der Verhaltensänderung; ein Abschnitt befasst sich damit, warum sich Patienten nicht an die Medikamentenverschreibung halten. Jeder Abschnitt wurde eindeutig gekennzeichnet und enthält die zentralen Aussagen und Empfehlungen, die wichtigsten neuen Informationen (für die echten Kenner) und weist auf die noch bestehenden Beweislücken hin. „Dieser Abschnitt richtet sich an Forscher, die nach Anregungen suchen“, erläutert Perk.
Neu hinzu gekommen ist das Kapitel ‚wo’, das sich mit der Prävention in unterschiedlichen Umgebungen der medizinischen Versorgung befasst. Dabei wird der Beitrag von Präventionsprogrammen, die von Krankenschwestern/-pflegern organisiert werden, von Hausärzten, Kardiologen mit eigener Praxis und von speziellen Rehabilitationseinrichtungen in Krankenhäusern untersucht.
Im letzten Kapitel steht das ‚neue Zeitalter’ der politischen Betätigung in der präventiven Kardiologie im Mittelpunkt. Gezeigt wird, wie Gesundheitsspezialisten zusätzlich zu den klinischen Präventionsaktivitäten ihr Aufgabengebiet um politische Lobbying-Aktivitäten erweitern können, um so mehr Einfluss auf die Gesamtbevölkerung in Bezug auf gesundheitsbewusstes Verhalten zu erlangen.
„Obwohl wir auf der klinischen Ebene mehr Einfluss haben, müssen wir die Politik einspannen, wenn wir in Bezug auf Herz-Kreislauferkrankungen wirklich etwas bewegen wollen. Das Verhalten der Menschen zu ändern, ist eine politische Angelegenheit“, so Perk. „Wir brauchen eine gesündere Umwelt, und dafür sind Gesetzesänderungen erforderlich, beispielsweise weniger Salz und trans-Fettsäuren im Essen, der Bau von mehr Fahrradwegen und mehr Sport bzw. Bewegung in den Lehrplänen an den Schulen.”